Sortiment
SISSEL

Gleichgewicht – ein oft unterschätzter Sinn

Ein Bericht von Rudolf Wölfling, Physiotherapeut

Wissenschaftler sind sich einig: Wir verlieren unser Gleichgewicht immer mehr. Das hat fatale Folgen, denn wer über keinen guten Gleichgewichtssinn verfügt, stürzt eher. Gerade bei älteren Menschen bedeutet schlechtes Gleichgewicht eine bis zu dreimal höhere Sturzwahrscheinlichkeit. In Zeiten des demografischen Wandels, in der die Bevölkerungsgruppe der hochbetagten Menschen weltweit am schnellsten wächst, ist von einer Zunahme des Problems auszugehen.


Studien zeigen immer klarer: Wir sind dabei, unseren Gleichgewichtssinn zunehmend zu verlieren. Die grassierende Bewegungsarmut bringt uns aus der Balance, was zu mehr Stürzen führt. Und nicht nur der Körper leidet unter zu wenig Bewegung, das wirkt sich auch auf die mentalen Fähigkeiten aus. Allein in der Schweiz verletzen sich gemäss der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) annähernd 280’000 Menschen pro Jahr durch Stürze. Davon sterben 1’680 an den Folgen – 40% mehr als noch vor zehn Jahren. Eine Vorbeugung von Stürzen ist daher von Bedeutung für den Einzelnen und das/unser Gesundheitssystem.


Unser Gleichgewichtssinn – eine komplizierte Angelegenheit

Der Gleichgewichtssinn ist äusserst komplex und nicht nur auf ein Organ beschränkt. Die Augen sind für die räumliche Wahrnehmung der Umwelt verantwortlich: Oben, unten und den Winkel. Noch wesentlicher ist das Gleichgewichtsorgan im Innenohr. Drei Bogengänge melden dem Gehirn die Lage im Raum, zusätzlich aber auch Informationen über die Schwerkraft und die Beschleunigung des Kopfes. Gleichgewichtsorgan und Augen stimmen sich ständig ab. Weiterhin benötigen wir die Informationen aus den Muskeln, um in Balance zu bleiben. Sinnesorgane im Bewegungsapparat, vor allem auch in den Faszien, melden dem Gehirn, in welcher Stellung sich Kopf und Körper befinden. Ein stabiles Gleichgewichtsgefühl entsteht, wenn alle Sensoren perfekt und ohne Widerspruch zusammenspielen.


Besseres Gleichgewicht trainieren

Kinder und ältere Menschen stürzen am meisten (1). Bei Kindern befindet sich das Gleichgewicht im Aufbau. Durch die kontinuierliche Bewegung der Mutter wird der Gleichgewichtssinn bereits im Mutterleib stimuliert. Je aktiver kleine Kinder dann sind, desto besser entwickelt sich das Gleichgewicht. Ohne Training bildet sich der Gleichgewichtssinn ab dem 20. Lebensjahr stetig zurück, so dass er bei älteren Menschen bereits wieder abgebaut ist.

Aus diesem Grund ist im Schützenmattpark in Basel auf wissenschaftlicher Basis ein Generationenspielplatz entstanden. Er ist als Begegnungsort gedacht, an dem beide Gruppen zusammenkommen und auf spielerische Art sowohl Gleichgewicht als auch Kraft fördern können. Initiiert wurde der Parcours von der Stiftung Hopp-La in Zusammenarbeit mit Lukas Zahner, Professor der Bewegungs- und Trainingswissenschaft an der Universität Basel.

Durch dieses gemeinsame Training, das durch Dr. Alice Minghetti von der Universität Basel wissenschaftlich betreut wurde, profitieren beide Gruppen auch psychisch und sozial. Senioren und Seniorinnen, die mit Kindern trainieren, haben eine bessere/höhere Lebensqualität und somit steigert sich auch ihr Wohlbefinden. Sogar bei der Schmerzbewältigung haben sie Vorteile gegenüber Senioren und Seniorinnen, die allein trainieren.


Besseres Gleichgewicht = bessere mentale Fähigkeiten

Trainiert man Balance und Gleichgewicht, hat das auch kognitive Effekte, da sich viele Bereiche in den entsprechenden Strukturen im Gehirn gegenseitig involvieren. Laut Dr. Sebastian Ludyga, der an der Universität Basel im Bereich Sport- und Gesundheitspädagogik forscht, zeigt sich klar, dass sich die mentale Leistungsfähigkeit verbessert – vor allem bei Kindern, die Defizite wie beispielsweise ADHS haben.

Doch die Realität sieht anders aus: Immer mehr Kinder mutieren zu «couch potatoes» und verbringen ihre Zeit mit Computerspielen. Auch hier gibt es verschiedene Ansätze, um dem Bewegungsmangel entgegenzuwirken. Das Startup «Sphery» in Zürich hat beispielsweise ein Spiel entwickelt, das gleichzeitig Gleichgewicht, Fitness und den Kopf trainiert. Die Entwicklung des Spiels wurde ebenfalls wissenschaftlich begleitet und die Messungen zeigten, dass die Kinder aufmerksamer, schneller und präziser in ihren Antworten waren.


Stürze mit Training vorbeugen

Auch für ältere Menschen bieten sich effektive Möglichkeiten für das Gleichgewichtstraining und damit zur Sturzprävention an: Übungsprogramme zu Hause, funktionale Übungen im Alltag, multimodale Interventionen mit Gleichgewichts- und Kraftübungen oder Tai-Chi.

Vielversprechende Ansätze sind zudem Übungen auf einem Stepper – Sie beugen etwa 50% der Stürze vor (2), Exergaming, also spielegestütztes Training (3), z.B. mit Treax Pads sowie Reaktivtraining (4). Auch in Pflegeeinrichtungen sind mehr evidenzbasierte Bewegungsinterventionen (5,6) sinnvoll, um die Funktionen aufrecht zu erhalten und das Sturzrisiko zu reduzieren.

Unsere Produktempfehlungen

lp-2022-fachwissen-gleichgewicht-portraet.jpg


Rudolf Wölfling ist diplomierter Physiotherapeut mit langjähriger Erfahrung. Zu seinen Fachgebieten zählen unter anderem die manuelle Therapie, Lymphdrainage, Faszientherapie, Wirbelsäulenbasisausgleichtherapie, Medical Flossing und Kinesiologie. Seine Praxis befindet sich in Zürich.

Literatur

  1. Status 2021 - Statistik der Nichtberufsunfälle und des Sicherheitsniveaus in der Schweiz, DOI-Nr. 10.13100/BFU.2.399.01.2021, 54
  2. Okubo Y. et al. 2017. Step training improves reaction time, gait and balance and reduces falls in older people: A systematic review and meta-analysis. Br. J. Sports Med. 51, 7: 586-593
  3. Mirelman A., et al. 2016. Addition of non-immersive virtual reality component to treadmill training to reduce fall risk in older adults (V-TIME): A randomized controlled trial. Lancet388, 10050:1170-1182
  4. Pai YC, et al. 2014. Pertubation training can reduce community-dwelling older adults’ annual fall risk: A randomized controlled trial. J. Gerontol. A. Biol. Sci. Med. Sci. 69, 12: 1586-1594
  5. Gulka HJ, et al. 2020. Efficacy and generalizabilty of falls prevention interventions in nursing homes: A systematic review and meta-analysis. J. Am. Med. Dir. Assoc. 21, 8: 1024-35
  6. Becker C, et al. 2003. Effectiveness of multifaceted intervention on falls in nursing home residents. J. Am. Geriatr. Soc. 51, 3:306-313